In der zweiten Ausgabe des Formats #gesundheitwirddigital – 5 Fragen ins Land berichtet heute Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, unter anderem über die dermatologische Anwendung Telescan und das weitere Verbesserungs- und Innovationspotenzial in der Digitalisierung.
Mit dem Format #gesundheitwirddigital – 5 Fragen ins Land möchten wir diejenigen zu Wort kommen lassen, die die Digitalisierung in Medizin und Pflege entscheidend voranbringen und uns dabei unterstützen, dass Baden-Württemberg auf diesem Gebiet Vorreiter bleibt. In unregelmäßigen Abständen veröffentlichen wir hier Interviews mit denselben fünf Fragen; heute Herr Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg.
Bitte beschreiben Sie Ihre Rolle bei der Umsetzung der Digitalisierung in Medizin und Pflege in Baden-Württemberg.
Das Land ist in einer guten Ausgangslage, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Wir haben eine ausgeprägte, lösungsorientierte Dialogkultur zwischen den beteiligten Akteuren. So ist die Gesundheitswirtschaft mittlerweile ein zentraler Wachstums- und Innovationstreiber in Baden-Württemberg. Viele Akteure im Land engagieren sich mit Projekten und Aktivitäten für die Digitalisierung des Gesundheitswesens – so auch die AOK Baden-Württemberg unter anderem mit der Etablierung von Telekonsilen und der elektronischen Arztvernetzung im Rahmen des Hausarztprogramms. Mit der Verantwortung für mehr als 4,5 Millionen Versicherte nimmt die AOK Baden-Württemberg als größte Krankenkasse des Landes eine zentrale Rolle als Impulsgeberin und als Lösungsorganisator bei der Umsetzung der Digitalisierung in Medizin und Pflege im Land ein. Ein besonderer Fokus liegt dabei auch auf der Künstlichen Intelligenz (KI). Bei der AOK Baden-Württemberg laufen bereits erste Tests, Service und Gesundheitsversorgung mit Hilfe von KI zu verbessern. Und in den nächsten Monaten werden zahlreiche Projekte gestartet, mit denen die AOK Baden-Württemberg vorangehen will. Digitalisierung darf allerdings kein Selbstzweck sein: Das bedeutet, dass genau geprüft werden muss, was für die Menschen bzw. die Versicherten tatsächlich von Nutzen ist. Investitionen sollten nur gezielt erfolgen. Der Fokus wird dabei auch weiterhin auf der Verbesserung einer qualitativ hochwertigen Versorgung für die Versicherten liegen, zum Beispiel durch die weitere Verzahnung von Prävention, Rehabilitation und Pflege.
Welches eHealth-Projekt oder welche Anwendung begeistert Sie besonders – und warum?
Ein Projekt, was aus meiner Sicht die Potenziale der Digitalisierung und den Nutzen für die Versicherten eindrucksvoll unterstreicht, ist die Anwendung „Telescan“. Insbesondere in ländlichen Regionen können die Wartezeiten auf einen Termin beim Dermatologen sehr lange sein. Ziel des Projekts ist es, die Behandlung von Patienten mit Hautveränderungen durch interdisziplinäre und digitale Versorgungsstrukturen auf- und auszubauen. Patienten können sich bei dermatologischen Fragen an ihren Hausarzt wenden. Falls ein fachärztliches Konsil notwendig ist, wird die Hautveränderung in der Hausarztpraxis fotografiert und an teilnehmende Dermatologen übermittelt. Innerhalb von wenigen Tagen erhält der Hausarzt einen Befund und kann gegebenenfalls weitere Behandlungsschritte einleiten. Für die Patienten bedeutet dies, dass weite Wege und lange Wartezeiten teilweise erspart bleiben– stattdessen erfolgt ein schneller Informationsaustausch zwischen Haus- und Facharzt. Die Intervention wurde bis Juni 2019 vom Innovationsfonds gefördert, aktuell führt die AOK Baden-Württemberg das Projekt im Rahmen des AOK-Hausarztvertrags in den entsprechenden Praxen auf eigene Kosten fort und bereitet den flächendeckenden Rollout in Baden-Württemberg vor.
Was waren rückblickend betrachtet wichtige Meilensteine für die Digitalisierung in Medizin und Pflege?
Auf Bundesebene hat Minister Spahn in den vergangenen Monaten und Jahren viel Bewegung in das Thema Digitalisierung gebracht. So wurden mit dem DVG und PDSG wichtige Grundsteine für die weitere Digitalisierung des Gesundheitswesens gelegt. Mit dem sich derzeit im parlamentarischen Prozess befindenden DVPMG soll nun auch die Pflege digitalisiert werden. Diese Schritte waren und sind für die weitere Digitalisierung in Medizin und Pflege elementar notwendig.
Die AOK Baden-Württemberg und ihre Partner haben allerdings mit der elektronischen Arztvernetzung schon sehr viel früher ein elementares Thema aufgegriffen, mit dem wir inzwischen 2142 Ärzte in 1700 Arztpraxen vernetzen und über 530.000 eAU, rund 2400 eArztbriefe und über 500 Medikationsinformationen auf den digitalen Weg gebracht haben – ganz ohne gematik und einer bundeseinheitlichen Telematikinfrastruktur. Vorteilhaft dabei war, dass wir dies im Umfeld der AOK-Haus- und Facharztverträge angehen konnten.
Wo hapert es auf Landes- bzw. Bundesebene aus Ihrer Sicht, wo muss nachgebessert werden?
Besonderes Verbesserungspotential sehe ich bei den Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), von denen seit Herbst 2020 die ersten Anwendungen flächendeckend als neue GKV-Leistung den Versicherten zur Verfügung stehen. Zwar ist deren Potenzial für eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung in gewissem Maße vorhanden, allerdings sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen bezüglich deren Zulassung und Vergütung kritisch zu sehen. Auch wenn ein – wie für die Zulassung von Medizinprodukten üblich – positiver Versorgungseffekt noch nicht nachgewiesen werden konnte, kann dennoch die Aufnahme in das Leistungsverzeichnis erfolgen, sodass die Anwendung von der GKV erstattet werden muss. Dies ist vor allem dem politischen Ziel geschuldet, DiGA möglichst rasch als neue GKV-Leistung zu etablieren und mit ihnen Erfahrungen in der Regelversorgung zu sammeln. Die finanzielle Belastung, die hierbei für die Beitragszahlenden entsteht, wird jedoch durch gesetzliche Vorgaben nicht ausreichend begrenzt. Der ausschlaggebende Faktor ist an dieser Stelle, dass die Hersteller die Preise im ersten Jahr der Erstattung eigenständig festlegen können. So kam es schon zu Preissteigerungen um 400 bis 500 Prozent für DiGA in der Regelversorgung im Vergleich zu deren bisherigen Kosten im Selbstzahlermarkt.
Welche nächsten Schritte sollten angegangen werden?
Oberstes Ziel muss es sein, die intersektorale Vernetzung in Zukunft voranzutreiben und weiterzuentwickeln. Innovative Versorgungsformen sollten dabei vor allem nach den Grundsätzen der Patientenorientierung, Qualität und Effizienz ausgerichtet werden. Dafür notwendig ist unter anderem eine umfassende Informations- und Kommunikationsinfrastruktur: Insbesondere hier muss der Fokus auf dem Breitband-Ausbau (schnelles Internet) und der weiteren Steigerung der Interoperabilität liegen. Um das Innovationspotenzial zu heben, müssen auch regionale Gestaltungsspielräume weiterhin erhalten bleiben. Das PDSG schränkt etwa durch detaillierte Regelungen in Bezug auf den Ausbau der Telematikinfrastruktur Potentiale ein. Wie hoch das Innovationspotential vor Ort aber sein kann, zeigt die elektronische Arztvernetzung der AOK Baden-Württemberg mit ihren Partnern Hausärzteverband und MEDI Baden-Württemberg. Hierzu bedarf es gesetzlicher Übergangsfristen zur Überführung innovativer Vorhaben auf die TI.
Vielen Dank für das Interview, Herr Bauernfeind.