„Der Mensch wird nicht digital, er bleibt analog.“

20.01.2021

Im neuen Format #gesundheitwirddigital – 5 Fragen ins Land berichtet heute Professor Uwe Bähr, Vorsitzender des Landesseniorenrates Baden-Württemberg, unter anderem über die elektronische Patiententakte sowie dringend benötigte Informations-, Beratungs- und Bildungsangebote.  

Mit dem Format #gesundheitwirddigital – 5 Fragen ins Land möchten wir diejenigen zu Wort kommen lassen, die die Digitalisierung in Medizin und Pflege entscheidend voranbringen und uns dabei unterstützen, dass Baden-Württemberg auf diesem Gebiet Vorreiter bleibt. In unregelmäßigen Abständen veröffentlichen wir hier Interviews mit denselben fünf Fragen; heute Herr Professor Bähr, Vorsitzender des Landesseniorenrates Baden-Württemberg.

Bitte beschreiben Sie Ihre Rolle bei der Umsetzung der Digitalisierung in Medizin und Pflege in Baden-Württemberg.

Der demografische Wandel und die mit ihm einhergehenden sozialen und erwerbsstrukturellen Veränderungen beeinflussen digitale Entwicklungen in Medizin und Pflege in Baden-Württemberg. Der Mensch wird nicht digital, er bleibt analog. In einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft ist es wichtig den Blick in der Digitalisierung auf die möglichst einfache Handhabung aus Sicht der Nutzer zu richten, ihre Daten zu schützen. Der Landesseniorenrat richtete sein Augenmerk insbesondere auf den Nutzen für die Menschen und ein dem Alter angepassten Umgang in der Telematikinfrastruktur (TI). In der Digitalisierung ist das Ziel, die Menschen in der Wahrnehmung ihrer Rechte auf Teilhabe und Selbstbestimmung zu fördern.

Welches eHealth-Projekt oder welche Anwendung begeistert Sie besonders – und warum?

Die elektronische Patientenakte (ePA) ermöglicht den Austausch von Daten zwischen den einzelnen Behandlungen und ist gleichzeitig Bestandteil der Telematikinfrastruktur. Die ePA ist das zentrale Element der vernetzten Gesundheitsversorgung und der Telematikinfrastruktur. Mit der ePA wird ein Instrument in die medizinische und pflegerische Versorgung eingefügt, welches einen Austausch von unterschiedlichen Daten von Behandlungen, Medikationen, Notfällen und Informationen erlaubt und damit auch höhere Ansprüche hinsichtlich der Nutzung an die Versicherten stellt. Diese sollen künftig auch selbst entscheiden, welche Daten gespeichert, gelöscht oder von wem eingesehen werden dürfen. Die TI vernetzt alle Akteure des Gesundheitswesens und gewährleistet den sektoren- und systemübergreifenden sowie sicheren Austausch von Informationen. Damit ist eine fall- und einrichtungsübergreifende Dokumentation möglich.

Was waren rückblickend betrachtet wichtige Meilensteine für die Digitalisierung in Medizin und Pflege?

Ein Meilenstein war das Projekt „docdirekt“. Es erleichtert den einfacheren und qualitätsgesicherten telemedizinischen Zugang zu ärztlicher Versorgung. Es trägt z. B. zur Verhinderung von Ansteckungsmöglichkeiten im Wartezimmer bei. Die Probleme der Datensicherheit müssen allerdings noch behoben werden. In Baden-Württemberg wurde im Zuge der Umsetzung der landesweiten Digitalisierungsstrategie (digital@bw) eine Informationsplattform geschaffen, die über Angebote, Entwicklungen und Projekte in den Bereichen der Gesundheits- und Pflegeversorgung informiert. Weitere Ansätze sind der E-Rezeptdienst GERDA und die Online Krankschreibung. Aus dem Bestreben die Digitalisierung im Gesundheitsbereich voranzutreiben hat sich ein Markt für neue technische Hilfsmittel wie z. B. Ortungssysteme oder Sturzsensoren entwickelt, die in den Alltag Einzug halten. Deshalb sollte das Hilfsmittelverzeichnis der Krankenkassen dem technischen Fortschritt angepasst werden.

Wo hapert es auf Landes- bzw. Bundesebene aus Ihrer Sicht, wo muss nachgebessert werden?

Aufgrund der föderalen Struktur des Gesundheitswesens entwickeln die Länder unterschiedliche Plattformen. Hier wäre es notwendig Schnittstellen zu schaffen, die einen Datenaustausch zwischen den unterschiedlichen länderspezifischen Systemen notwendig machen. In einer mobilen Gesellschaft sind Informationsplattformen für Laien, Betroffene und professionell Pflegende sowie Netzwerke für die Vermittlung von Informationen und Hilfen unter Pflegebetroffenen erforderlich. Als Verbraucher erhält man das Gefühl, dass es ein Geschäftsmodell der Digitalbranche ist, in kürzesten Abständen immer wieder neue Varianten eines Produkts auf den Markt zu bringen. Tatsächlich sind weder die Geräte verschiedener Hersteller untereinander kompatibel noch gibt es einheitliche Terminologien und Bedienweisen. Nach Auffassung des Landesseniorenrates sollte die Bundesregierung Anreize schaffen, durch gezielte Standardisierungsvorschriften verbraucherfreundliche Produkte für alle zu fördern.

Welche nächsten Schritte sollten angegangen werden?

Es ist notwendig die Bevölkerung über die Vorteile der ePA verstärkt aufzuklären, um Ängste abzubauen. Das medizinische Fachpersonal ist in der Anwendung der telemedizinischen Anwendung verstärkt auszubilden, die inhaltlich qualitativen Aspekte von Informations-, Beratungs- und Bildungsangeboten auf der anderen Seite miteinander zu verbinden. Deutlich wird dies vor allem mit Blick auf den Auf- und Ausbau sektorenübergreifender Strategien, Strukturen, Kooperationen und Angeboten. Dabei sollten Autonomie und Selbstbestimmung der Patienten erhalten bleiben. Diese lässt sich durch Aufklärung, Information und Meinungsbildung erreichen. Auch Ärzteschaft, Pflegepersonal etc. sollten die Möglichkeit haben, sich auf diesen Prozess einzustellen, den aufgeklärten Patienten zu begleiten. Notwendig ist der weitere Aufbau eines flächendeckenden Internetzugangs in Baden-Württemberg sowie entsprechender Unterstützungs- und Begleitangebote vor Ort. Darüber hinaus muss die Förderung der Versorgung mit standardisierten Endgeräten begonnen werden, um auch technikfernen Personen die Möglichkeiten eines Zugangs zu ermöglichen.

Vielen Dank für das Interview, Herr Professor Bähr.

Zum Hintergrund: Seit dem 1. Januar 2021 haben gesetzlich Versicherte Anspruch auf eine elektronische Patientenakte. Wenden Sie sich hierfür bitte direkt an Ihre Krankenkasse. In dieser Liste finden Sie Links zu den ePA-Apps der gesetzlichen Krankenkassen im Google Play Store bzw. App Store in alphabetischer Reihenfolge. Für grundlegende Informationen ist im Rahmen des Modellprojektes gesundaltern@bw ein speziell für ältere Menschen konzipierter Vortrag zur ePA entstanden:

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